"Fasd-Perfekt" Selbsthilfegruppe für FASD & AD(H)S Celle und Umgebung
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           Du bist richtig, so wie Du bist

 




Satt und sauber - wenn Liebe und Fürsorge für Kinder schon vor der Geburt fehlen.
Ein Interview mit Anni*, 54 Jahre alt

Ich treffe mich heute mit Anni. Sie ist eine freundliche, hübsche, etwas ängstlich wirkende kleine Frau mit funkelnden Augen; fast ein bisschen kindlich wirkt sie.
Wir kennen uns bereits durch Telefonate und ein Treffen. In den vorherigen Gesprächen war ich gleich begeistert von Annis wunderbaren Art zu erzählen. Sie berichtet, dass sie einen Film über Menschen mit FASD gesehen hat und dass sie anschließend dachte: Im Vergleich zu denen geht es mir eigentlich gut! Oder?
Gerade das hat mich interessiert und sie war sofort bereit, von sich und ihrem Leben zu erzählen.


Ich: Was glaubst Du, warum geht es dir im Vergleich zu anderen erwachsenen Menschen mit FASD besser?


Anni: Als mein kleiner Bruder so ungefähr 5 Jahre alt war, hatte er meiner Mutter Geld gestohlen, um mir ein kleines Geburtstagsgeschenk zu kaufen. Er hatte eine tolle Wasserpistole gesehen, die sollte es sein. Sie hat ihn erwischt. Zur Strafe hat sie ihn mit ihrer Gerte ausgepeitscht. Mein älterer Bruder und ich hatten das völlig fassungslos aus dem Nebenzimmer durch die Glastür beobachtet. Dieser Schock hat sich so eingebrannt in mir, dass ich es niemals gewagt hätte, etwas Verbotenes zu tun. Unsere Mutter war nie eine zugewandte oder liebevolle Mutter. Wir mussten satt und sauber sein, zur Schule gehen, nicht stören und dann schlafen. Unser Vater hat sich nicht gegen unsere Mutter gestellt, war aber wesentlich freundlicher zu uns.
So traurig der Grund auch sein mag, ich glaube, dieser tiefsitzende Schock hat mich vor anderem „Unheil“ bewahrt. Ich war immer ein sehr unterwürfiger und angepasster Mensch, auch wenn es mir innerlich so viel Druck und Schaden zugefügt hat. Sowohl zuhause als auch später im Internat und in meinen Berufen.


Ich: Wie kamst du überhaupt darauf, dass du FASD haben könntest?


Anni: Ich habe eine Zeit als Unterstützungskraft in einer Kita gearbeitet und dort war ein kleiner Junge, zu dem ich irgendwie eine andere, intensivere Beziehung hatte als zu all den anderen Kindern. Er war sehr unruhig und zum Mittagsschlaf habe ich mich immer zu ihm gelegt, damit er ruhiger wurde. Irgendwann fragte ich die Gruppenleitung, was mit ihm sei. Sie antwortete: er ist ein Kind mit FASD. Ich ließ mir erklären, was das ist und konnte ab da an nichts anderes mehr denken. Mir fielen gleich die Fotos meiner Mutter ein, auf denen sie auch schwanger Alkohol in der Hand hielt. Ich kannte meine Mutter nur trinkend. Ich entschloss, sie direkt zu fragen. Sie war ganz erstaunt und sagte: ja, klar. Alle haben immer getrunken. Ist doch nichts dabei.
Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Mit großer Wahrscheinlichkeit hatten auch meine Brüder die gleiche Schädigung wie ich. Hinweise darauf gibt es viele.
Ich besorgte mir ein Buch über FASD mit umfassenden Informationen und Hinweise zu Möglichkeiten zur Diagnosestellung. Bis zur Diagnose in Berlin bei Prof. Spohr hat es dann noch einmal ca. 1,5 Jahre gedauert, auf Grund von Corona. Nun war es also klar; ich habe FASD. Es war ein komisches Gefühl. Irgendwie niederschmetternd und doch so befreiend. All meine Probleme all die Jahre. Ich war kein Taugenichts, ich war nicht verrückt, ich war keine Versagerin. Ich bin ein Mensch mit einem nicht wieder zu heilenden Hirnschaden.
Seit dem plötzlichen Unfalltod meines jüngsten Bruders vor über 30 Jahren war ich in Psychotherapie. Nie konnte mir geholfen werden. Immer scheitern, vor allem nach innen.
Nun war klar, ich habe eine Behinderung. Das Kind hat einen Namen. Gut so.


Ich: Was sind deine täglichen Hürden im Alltag? Was fällt dir besonders schwer?


Anni: Es fällt mir so schwer, mich zu spüren. Zu spüren, was ich brauche und was vor allem nicht. Zu spüren, wann es zu viel, zu laut, zu warm, zu kalt und zu gefährlich für mich ist. Ich will es immer allen recht machen und das macht mich dann einfach meistens fertig.
Ich kann auch nicht so gut nett zu mir selbst zu sein. Ich glaube immer, ich habe es nicht verdient mich auszuruhen und Angst, andere zu enttäuschen.
Anforderungen, die an mich gestellt werden, überfordern mich. Das macht mir so viel Druck.
Besonders belastend empfinde ich die große Einsamkeit. Ich bin so froh, zu wissen, dass es noch mehrere Menschen wie mich gibt. Es ist nur sehr schwer sie zu finden und dann zueinander zu kommen. Ich gehe jetzt in eine Selbsthilfegruppe. Außer meinen Hund habe ich eigentlich niemanden, der mir wirklich guttut.
Ich habe in den vergangenen 30 Jahren immer gearbeitet. Einige Jahre in einer PR-Agentur. Das hat sogar gut funktioniert. Die Chefin mochte mich gern und hat mir Aufgaben übertragen in Bereichen, die mir lagen und ich konnte das gut schaffen. Sie hat mich immer nett behandelt, mich gelobt für meine Arbeit und hat mich scheinbar verstanden.
Dann habe ich noch eine ganze Zeit als Erzieherin gearbeitet. Ich konnte mich gut orientieren durch die tägliche Struktur und wieder durch eine Vorgesetzte, die mir eine klare Richtung vorgab und mich schätzte. Als diese Vorgesetzte wegging, sollte ich die Gruppe übernehmen. Das hat mich maßlos überfordert, ich konnte das nicht leisten. Mir fehlte die Leitfigur, ich konnte das nicht sein.  Um Leistungen zu erbringen, brauche ich klare Vorgaben und jemanden, der für mich Grenzen setzt. Ich habe dann meine Stunden deutlich reduziert und meine Chefin räumte mir mehr Pausen ein. Mittlerweile erhalte ich Erwerbsminderungsrente.


Ich: Was entlastet dich, was hilft dir ganz besonders im Alltag und im Leben allgemein?


Anni: Zu wissen, wie ich ticke! Ich benutze das „Sortierbuch“ (Ralf Neier & Teresa Löbbel), das ich für mich angepasst habe. Das hilft mir sehr, mich zu reflektieren und auch Ängste vor Terminen etc. abzubauen.
Mir hilft es immer mehr, dass ich akzeptieren kann, bestimmte Dinge nicht zu können, weil ich sie einfach nicht können kann und nicht, weil ich dumm, faul oder sonst was bin. Das entlastet mich sehr, gleichzeitig macht es natürlich auch traurig. Aber das war ich vorher auch schon.
Ich benutze spezielle Kopfhörer, um Geräusche um mich herum zu dämpfen, wenn ich es brauche.
Besondere Sicherheit geben mir klare, immer wiederkehrende Strukturen und Abläufe. Da darf nichts umgeworfen werden einfach so. Das erschüttert mich dann regelrecht und ich bin zu nichts mehr fähig und völlig blockiert. Das kann man sich vielleicht nicht vorstellen, aber das ist ganz furchtbar schlimm für mich. Deshalb plane ich alles ganz genau. Wenn ich von Regeln oder z. B. Rezepten abweichen muss oder soll, ist das enormer Stress für mich und begleitet mich bis in den Schlaf. Letztens habe ich einen Kuchen gebacken nach einem alten Apfelkuchenrezept. Nun sollte es aber ein Kirschkuchen werden und ich habe nur die Äpfel gegen Kirschen ausgetauscht. Das hat mich fast wahnsinnig gemacht und ich musste noch abends im Bett darüber nachdenken. Pläne, Checklisten und Anleitungen geben mir Sicherheit wie ein Korsett. Wenn dann ein Plan gut abgearbeitet werden konnte, erfüllt mich das mit großer Zufriedenheit und Ruhe.
Mir helfen Klarheit hinsichtlich meiner Behinderung. Perspektiven und Grenzen sind jetzt für mich überschaubarer durch die Diagnose und mein Wissen über FASD. Ich lese viele Bücher und Texte, auch aus dem Ausland. Das hilft mir sehr. Endlich steht da schwarz auf weiß, was die Beschädigung des Gehirns für weitreichende Folgen hat. Wie viele Zusammenhänge es gibt; Neurologisch, psychisch und physisch.
Mir hilft die Selbsthilfegruppe, der Austausch – ich bin dann nicht allein und dort versteht man mich und hat auch noch mal andere Ideen oder Informationen. Es wäre schön, wenn noch mehr Menschen mit FASD kommen würden.
Auch Rituale und regelmäßige Rückzugsmöglichkeiten helfen mir, meinen Tag besser zu überstehen.


Ich: Was wünscht du dir von der Gesellschaft, deinem Umfeld und auch der Politik?


Anni: Ich wünsche mir sehr, dass die Ärzte sich auskennen und uns ernst nehmen. Wenn ich wegen meiner ständigen Ängste extrem verkrampft bin, dann wirkt sich das auf den ganzen Körper aus. Das bilde ich mir nicht ein und ich stelle mich auch nicht an. Das ist einfach sehr belastend und schmerzhaft. Da sind dann schon drei Ärzte im Boot – Orthopäde, Zahnarzt und Psychiater – und keiner kennt FASD und die Folgen. Ich habe immer den Eindruck, die glauben mir nicht und denken, ich spinne.
Menschen aus meinem direkten Umfeld sollen endlich verstehen und akzeptieren, dass ich eine andere Wahrnehmung und somit eine andere Sicht auf die Dinge habe, viel intensiver empfinde. Es wäre so hilfreich, wenn ich mich schon erkläre, dass das dann auch akzeptiert wird, ohne Kritik oder Ausgrenzung und Abwendung. Es ist ein Teufelskreis; fast nie habe ich das Gefühl richtig zu sein. Ich wünsche mir auch mehr Ehrlichkeit. Man kann mir ja sagen, dass man das nicht wusste oder sich nicht so gut auskennt, aber die allermeisten wenden sich dann von mir ab und finden mich seltsam. Das ist glaube ich das allerschlimmste. Diese große Einsamkeit, auch in der Partnerschaft.
Von der Politik wünsche ich mir und erwarte das auch endlich, dass es mehr Aufklärung gibt, überall. In vielen europäischen Ländern sind selbstverständlich Piktogramme auf den Flaschen, die darauf hinweisen, dass während der Schwangerschaft auf Alkohol verzichtet werden soll. Hier in Deutschland sind glaube ich 4 Symbole auf so einer Flasche; u. a. wie man die Flasche zu entsorgen hat! Aber, dass das ungeborene Kind für immer behindert ist, steht da nicht. Das ist doch nicht normal.
In Frankreich z. B. fragen die Frauen- und Kinderärzte völlig selbstverständlich, ob Alkohol während der Schwangerschaft konsumiert wird oder wurde. Ich wünsche mir, dass Mütter das sagen können, ohne verurteilt zu werden. Oft wissen die Frauen doch noch gar nicht, dass sie schwanger sind. Es geht doch aber um die Hilfe für alle! Eltern, die mit einem FASD-Kind überfordert sind, denen geht es doch auch nicht gut. Und wenn die dann ihr Kind mit so viel Härte und Druck erziehen, wie mir das passiert ist, das wünsche ich keinem Kind der Welt.
Ich freue mich für alle Kinder mit FASD oder überhaupt für alle Kinder, die in Familien aufwachsen, in denen sie einfach geliebt werden, wie sie sind, wo sie gefördert werden, wie es zu ihnen passt – sie sollen einfach richtig sein, weil jedes Kind richtig ist. Ich habe nur Angst und Erniedrigung erfahren, das habe ich nicht verdient und das hat niemand verdient.


Ich: Deine Worte treffen ins Herz. Du bist eine sehr starke Frau. Was möchtest du zum Schluss den Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit FASD sagen?


Anni: Wir alle sind fasdzinierende Wesen! Wir sind ok so wie wir sind, mit allen Schwierigkeiten und Nöten und Stärken. Nehmt Hilfen an, erkennt eure „Schutzengel“ – es gibt sie.


Ich: Ganz herzlichen Dank für deine Zeit und deine Bereitschaft von dir zu erzählen.


Das Gespräch mit Anni hat mich noch lange verfolgt. Was für ein Leben. So viel Härte, so
wenig Liebe und auch so viel Kraft. Sie erzählte von einer Nanny, die sie besonders mochte
und die sehr liebevoll zu ihr war und auch die Chefin und Vorgesetze waren ihr sehr
wohlgesonnen. Immer wieder zeigt sich, wie wichtig Menschen ausserhalb der Familie im
Leben anderer sein können. Jeder braucht jemanden, dem er wichtig ist.
Dieses Interview führte ich im Juni 2022.
Nevim Krüger
*Name geändert